Wir stellen uns vor, es gäbe ein Pärchen. Einer von ihnen ist ein Wolf, einer ein Bär. Beide erleben den gleichen Tag. Sie stehen morgens auf, haben einen Friseurtermin, etwas Zeit zu Hause und abends treffen sie sich mit ein paar Freunden im Kino. Obwohl der Tag die gleichen Aktivitäten hat, erleben ihn beide völlig unterschiedlich.

Der Tag eines Wolfs:

Ich wache auf. Ich gucke aufs Handy: Es ist 9:47 Uhr, ich habe gut geschlafen. Meine Freundin liegt neben mir. Ich frage mich, ob sie noch schläft. Ich gebe ihr vorsichtig einen Kuss. Vorsichtig versuche ich aufzustehen, greife mir die Bluetoothbox, geh ins Badezimmer, mach mir energiegeladene Musik an und Dusche. Während ich mir in den Haaren rumfuchtel frage ich mich, was ich dem Friseur gleich sagen werde. Vermutlich sowas wie „Spitzen schneiden“, denke ich. Nachdem ich mich fertig gemacht habe, checke ich nochmal mein Handy: 10:19 Uhr. Ich habe noch genug Zeit ein bisschen durch Social Media zu scrollen und hau mich aufs Sofa. Meine Freundin wird in der Zwischenzeit wach. Ich gehe zu ihr rüber und wünsche ihr einen guten Morgen. Ich muss langsam los, also zieh ich mir die Schuhe an, packe meine sieben Sachen und verlasse das Haus in Richtung Bushaltestelle. Ich warte auf den Bus, grüße den Busfahrer als er da ist und halte Ausschau, ob mein Lieblingsplatz frei ist. Kacke, besetzt. Ich setze mich wo anders hin. Da ich nur eine Viertelstunde fahren muss, packe ich mir einen Kopfhörer rein und höre weiter meine Musik. Ich steige aus, nehme den Kopfhörer raus und hole mir noch ein Schnitzelbrötchen mit extra viel Ei drauf und etwas zu trinken beim Bäcker. Irgendwo davor esse ich auf und mach mich dann auf den Weg zum Friseur. Als ich angekommen bin gehe ich rein und grüße einmal laut in den Laden, sodass mich jeder hört. Meine Friseurin begrüßt mich und bietet mir einen Platz an. Ich setze mich hin und sehe mich im Spiegel. Also was genau sage ich dem Friseur jetzt? „Spitzen schneiden.“ Ich warte auf den obligatorischen Smalltalk mit meiner Friseurin. Wir unterhalten uns über meinen Geburtstag. Mir fällt ein, dass ich noch Bierkästen besorgen muss für die Party. Mir fällt auf, dass sie viel zu viel abgeschnitten hat. „Oh, das ist aber kurz, kürzer als ich wollte“ sage ich. Sie entschuldigt sich und bietet mir einen Rabatt an. Ich bezahle den vollen Preis, kann ja mal passieren, außerdem ist es meine Stammfriseurin. Ist jetzt passiert, aber eben kein Weltuntergang. Im Endeffekt ist ihre finanzielle Einbuße ja, dass ich jetzt länger nicht mehr dahin kommen muss, denke ich mir und lache.
Ich mache mich auf den Heimweg, ein Handycheck sagt 13:20 Uhr. Ab nach Hause, wieder in den Bus, mein Lieblingsplatz ist frei. Sehr schön. Ich komme zu Hause rein und präsentiere meiner Freundin meinen neuen Haarschnitt. Sie scheint nicht begeistert zu sein. „Ich habe genau so reagiert“ und fange an zu lachen. Ich muss noch ein wenig den Haushalt schmeißen, also werfe ich eine Waschmaschine an und staubsauge. Die Uhrzeit sagt 15:00 Uhr. Ab an den Rechner, ein bisschen zocken mit den Jungs. Wir amüsieren uns. Ich muss um 20 Uhr am Kino sein, also beende ich das Zocken so gegen 20 vor 7. Ich betrachte mich aufgrund meiner misslungenen Frisur etwas kritischer als sonst im Spiegel und versuche das Beste herauszuholen. Dann schaue ich nach meiner Freundin, die auch bereits fertig gemacht ist. Sie sieht sehr hübsch aus, das lasse ich sie natürlich wissen.
Wir verlassen das Haus um 19:15 Uhr und schlendern in Richtung Kino. Als wir angekommen sind, sehe ich, dass es super voll ist. Sowohl vor dem Kino als auch drin. Von unseren Freunden ist anscheinend noch niemand da. Ich parke meine Freundin irgendwo in einer ruhigen Ecke vor dem Kino und reihe mich am Schalter ein, um Tickets zu kaufen. Es gibt nur noch Parkettplätze, also ganz unten, stört mich jetzt nicht unbedingt. Ich komme mit den Tickets raus, inzwischen sind wir fast vollzählig, einer fehlt noch. Ich schäkere kurz mit ihnen und wir warten auf den Letzten. Er meldet sich nicht und es sind noch 10 Minuten bis der Film beginnt. Ich schreibe ihm eine Whatsapp und sage ihm, dass wir rein gehen. Das Ticket hinterlasse ich an der Kasse, damit er sich das abholen kann. In der Whatsapp schreibe ich ihm, auf welchem Platz er sitzt, damit er sich das richtige Ticket holen kann. Wir holen uns noch etwas Popcorn und Trinken und betreten den Kinosaal. Ich suche unsere Plätze und arrangiere mich, je nachdem wer innen oder außen sitzen will. Kurz nachdem der Film begonnen hat, bemerke ich, dass hinter mir jemand sitzt, der ständig gegen meinen Sitz tritt. Ich bin inzwischen richtig genervt davon. Ich dreh mich um, gucke ihn demonstrativ an und hoffe, dass er meine Warnung verstanden hat. Hat er nicht. Ich drehe mich genervt um und bitte ihn, das zu lassen. Tut er nicht. Ich drehe mich NOCHMAL um und sage es ihm ganz inhaltlich, dass er das jetzt bitte lassen soll. Tut er nicht. Ich überlege, ihm den Popcorneimer überzuziehen, entscheide mich aber dagegen. Ich stehe auf, gehe aus dem Saal und sage einem Mitarbeiter Bescheid. Er kommt mit und verweist den jungen Mann aus dem Kinosaal. Problem solved. Jetzt kann ich den Film genießen.
Der fehlende Kumpel ist immernoch nicht da, also checke ich nochmal vorsichtig mein Handy. Nichts. Ich sage den anderen kurz Bescheid und konzentriere mich jetzt endlich auf den Film. Ist ein echt trauriger Film, mir kommen sogar ein paar Tränen. Meine Freunde weinen wie Schloßhunde. Als wir nach dem Film vor dem Kino stehen, besprechen wir kurz den Film. Ich rege mich kurz über den Typen hinter mir auf und dann lache ich, weil er den Film jetzt nicht sehen konnte. Wir verabschieden uns langsam und meine Freundin und ich machen uns den Heimweg. Handycheck: 22:50 Uhr. Schon spät. Ich frage meine Freundin, ob wir noch irgendwas gucken wollen. Wir einigen uns auf Katzenvideos auf Youtube. Als wir zu Hause ankommen, ziehen wir uns aus, machen uns bettfertig und kuscheln uns vor dem Fernseher ein.
Ich lasse den Tag Revue passieren und rege mich innerlich ein bisschen über den Haarschnitt und den Idioten im Kino auf, bin aber alles in allem zufrieden mit dem Tag. Ich döse so langsam bei den Katzenvideos ein, bis ich irgendwann vermutlich laut schnarche.

Der Tag eines Bären:

Ich wache auf, das Bett neben mir ist leer. Mein Freund ist wohl schon aufgestanden. Mein Mund ist total trocken, ich muss sofort aufspringen und etwas trinken. Dabei bemerke ich, dass ich irgendwie total durch den Wind bin. Ich muss erstmal eine halbe Stunde sitzen und klarkommen. Ich schaue auf mein Handy, es ist 10:30 Uhr. Scheiße. Ich muss um 12 beim Friseur sein. Ich stehe total hektisch auf und versuche mich zu organisieren, meine Klamotten habe ich mir gestern Abend schon zurechtgelegt und ich habe meine Haare gestern Abend gewaschen, damit ich sie durch den Friseurbesuch nicht zwei Mal waschen muss. Das kommt mir irgendwie nicht gesund für die Haare vor. Aber nicht, dass die jetzt schon fettig sind, das wäre auch total unangenehm beim Friseur. Ich checke das kurz im Spiegel. Scheint okay zu sein. Ich gehe ins Bad und mache mich fertig. Ich verstehe nicht, warum mein Freund seine alten Zahnbürsten nie wegschmeißt. Die stehen da alle in seinem Becher. Typisch, denke ich mir und bin ein bisschen genervt, dass er auf so etwas nicht achtet. Ich gehe zurück in mein Zimmer, um mich anzuziehen. Mein Freund kommt mir im Flur entgegen. Achja, er fährt ja auch zu seiner Friseurin. Ich verabschiede ihn an der Tür und stehe jetzt im Flur. Ich sollte was essen, bevor ich das Haus verlasse. Ich kann in der Öffentlichkeit nicht essen und ich will echt nicht, dass mein Magen beim Friseur knurrt. Ich gehe in die Küche und suche den Kühlschrank ab. Ich kann nichts essen, was direkt aus dem Kühlschrank kommt, das ist mir irgendwie einfach zu kalt. Ich überlege mir ein Müsli zu machen, aber das dauert jetzt alles zu lange. Ach scheiße, wir haben schon 11:00 Uhr. Ich renne wie von der Tarantel gestochen in mein Zimmer und ziehe mich an. Dann suche ich meinen Schmuck für den Tag aus. Eigentlich würden zu dem Outfit super ein paar Ohrringe passen. Ich weiß aber nicht, ob die Ohrringe den Friseur stören. Und sie da auszuziehen und abzulegen ist auch doof. Was ist wenn einer runterfällt und ich den nicht mehr wiederfinde? Wäre nicht das erste Mal. Naja, dann könnte ich ja einen der einzelnen Ohrringe die ich hier habe mit dem kombinieren. Warum macht man das eigentlich nicht häufiger? Also nur weil man ein Paar Ohrringe hat, ist es ja nicht verboten nur einen davon anzuziehen. Komisch. Ja okay, keine Ohrringe.
Ich packe meine Tasche wie immer und für alle Fälle vorbereitet. Etwas zu trinken, Kaugummis falls der Atem versagt, Deo, Tabletten, Tampons, Haargummis, Feuerzeug, Nadel und Faden, Regenschirm, Powerbank, eine extra Tüte, Masken und ganz viel anderen Kram, den man im Notfall bräuchte. Ich werfe mir einen Schal über, ziehe meine Schuhe an und laufe im Dreieck um zu kontrollieren, dass alle Elektrogeräte ausgeschaltet sind und vor allem der Herd! Ist ausgeschaltet. Ich gehe zu meiner Tasche und schmeiße sie um. Igitt, ich kann den Schal gerade nicht ertragen, viel zu eng am Hals. Ich werfe ihn einfach in mein Zimmer und verlasse dann die Wohnung. Gerade noch pünktlich für den Bus. Ich hoffe, der Bus ist nicht so voll. Ich habe meine Noise-Cancelling-Kopfhörer um den Hals gehangen. Ich ziehe sie aber immer erst auf, wenn ich ein paar Sekunden sitze, weil ich für den Fall abwarte, dass der Busfahrer mich zurückruft, weil etwas mit meinem Ticket nicht stimmt oder ich etwas verloren habe. Ich möchte nicht, dass ich das nicht mitbekomme oder jemand mich antippen müsste oder sowas. Dann setze ich die Kopfhörer auf. Heute ist mein Lieblingsplatz besetzt, was mich die ganze Fahrt dermaßen nervt. Ich sitze jetzt stattdessen auf einer dieser beweglicheren Sitze, es fühlt sich ganz unangenehm an. Mein Magen knurrt. Scheiße, ich hab jetzt total vergessen, etwas zu essen.
Als ich beim Friseur ankomme sehe ich von weitem schon, dass mein Friseur gerade noch eine Kundin föhnt. Das heißt, wenn ich jetzt reingehe und hallo sage, hört er mich nicht. Vielleicht bemerkt er mich dann gar nicht und dann erst total spät aber dann sitze ich da schon total awkward in der Ecke und muss nochmal Hallo sagen. Und ich muss dann warten, bis er mich sieht? Ich kann dann ja nicht einfach nochmal Hallo in den Raum rufen wie eine Irre. Okay, ich stelle mich auf die andere Straßenseite und versuche unauffällig zu beobachten, was der Friseur macht. Seh ich jetzt aus wie ein Spanner? Ich tue so als würde ich telefonieren und gehe dabei ein bisschen umher. Wirke ich gerade natürlich oder wie ein Freak? Also die Leute gucken nicht komisch. Ah, er hat aufgehört zu föhnen und die Kundin bezahlt. Mein Einsatz. Ich gehe in den Laden rein und er begrüßt mich sofort. Er bietet mir einen Platz an, der noch warm ist von der Kundin davor. Ich bin angewidert, lasse mir aber nichts anmerken. Ich sehe mich im Spiegel. Fühlt sich noch jemand beim Friseur und bei H&M in der Umkleidekabine am hässlichsten oder bin das nur ich? „Spitzen schneiden, bitte.“ sage ich ihm. Gott sei Dank schweigen wir immer. Während er meine Haare schneidet berührt er ständig mein Gesicht, meine Ohren und einmal sogar aus Versehen meine Lippen. Ich finde das absurd intim und frage mich wo seine Hände sonst schon überall waren. Ich weiß nicht, warum aus sowas immer so komischen Gedanken entstehen.
Ach du scheiße! Die Haare sind viel zu kurz. Es sieht richtig beschissen aus. Ich bin entstellt und ich muss heute Abend noch ins Kino. Kacke. Er fragt, ob alles okay ist. Ich nicke und gehe zum Bezahlen. Ich lasse ihm noch das übliche Trinkgeld da und traue mich nicht aus der Tür hinauszugehen. Ich kann so nicht durch die Stadt oder Bus fahren, ich fühle mich gerade so scheußlich, dass ich einfach nur nach Hause will. Haare waschen und gucken, was zu retten ist. Ich ziehe mir die Kapuze auf und rufe mir ein Taxi. Der Taxifahrer will mit mir Smalltalk halten. Warum? Ich werde diese Person nie wieder sehen und wenn doch, ist es mir auch egal. Er kann mir gerne seine tiefsten Ängste anvertrauen oder irgendwas anderes tiefsinniges, da wäre ich sofort interessiert. Aber Was bringt mir jetzt diese Information, dass seine Enkelin übermorgen konformiert wird? Es mag ja Leute geben, die das abnicken und die Information direkt vergessen. Ich nicht. Was für ein Kleid trägt sie, wie sieht sie aus? Ist sie dick oder dünn? Groß oder klein? Ich muss schon mehr Informationen haben, um mir das bildlich vorzustellen. Aber ich möchte diese Informationen auch nicht erfragen, ich glaube, das ist das was Smalltalkfans als Grenzüberschreitung bezeichnen. Also muss ich jetzt bis übermorgen mit der Tatsache leben, dass ich an ein Kind denke, dass jetzt konformiert wird und ich weiß nicht mal, wie sie aussieht. Super. Ich steige aus und renne hinein.
Ich zeige meinem Freund meine Frisur und fange an zu weinen. Er sieht nicht begeistert aus, jetzt breche ich komplett in Tränen aus. Wenn er nicht begeistert aussieht, heißt das, er findet mich hässlich, so wie ich mich auch gerade sehe. Und will man mit jemandem zusammen sein, der für einen selbst unattraktiv ist? Nein. Ich krieg Verlassensangst und verfalle in Panik. „Aber du liebst mich trotzdem noch, oder?“ Er bejaht, beruhigt mich und sagt, dass es irgendwie süß aussieht. Ich komme langsam wieder runter. “ Meinst du? Ich musste übrigens ein Taxi nehmen, weil ich mich zu hässlich für den Bus fand.“ Er nickt und sagt „ist okay“. Er ist es gewohnt, dass ich mir oft von irgendwo aus der Menge ein Taxi nach Hause nehmen muss, weil es nicht mehr geht. Ich komme nach und nach runter. Zu Hause ist sowas wie ein Schutzraum für mich. Hier kann mir keiner was.

AUSSER DIESE WASCHMASCHINE!

Warum läuft denn jetzt die Waschmaschine?! „Ja, weil die Wäsche gewaschen werden musste“. Wir streiten uns ein bisschen. Ich bin wieder unentspannt, dieses Schleudern nervt mich gerade so sehr, dass ich meine Kopfhörer anziehen muss. Aber mit denen auf dem Kopf kann ich ja schlecht meine Haare waschen. Also muss ich jetzt warten. Mit diesen hässlichen Haaren. Bis die Maschine fertig ist.
Mein Freund sitzt währenddessen schon am Rechner und fängt an zu zocken. Na toll, wenn er jetzt wieder da rumbrüllt, werde ich vor dem Kino wohl kaum zur Ruhe kommen. Die Maschine ist gelaufen, wir haben schon 16:30 Uhr. Endlich kann ich meine Haare waschen. Als ich aus der Dusche komme und in den Spiegel gucke bin ich etwas beruhigter. Ist doch ganz okay ohne das komische Styling vom Friseur. Ich muss mich hinlegen. Die Energie ist für diesen Tag komplett aufgebraucht. Ich bitte meinen Freund mich in einer Stunde zu wecken. Ich kann nicht einschlafen. Nach einer Stunde hin und her wälzen stehe ich wieder auf und bin wahrlich nicht gut drauf. Ich mache mich fertig und lackiere meine Nägel. Eigentlich muss ich noch was essen. Nägel sind echt was komisches, eigentlich ist das ja nur totes Gewebe, so wie Haare. Und eben hab ich jemanden dafür bezahlt, dass er mir totes Gewebe kürzt. Und jetzt male ich totes Gewebe an. Irgendwie eklig. Aber wenn man es so sieht, dann sind Steine auch totes Gewebe und Steine mag ich echt gerne. Das ist ja auch nichts ekliges. Sind Fingernägel quasi erst vor kurzem entstandene menschliche Steine? Ich lackiere mir erst die rechte Hand, damit ich mir der linken noch Notfalldinge tun kann. Ich möchte zum Beispiel nicht, dass ich beide Hände lackiert habe und dann fällt der Strom aus und ich muss dann mit dem frisch lackierten Finger die Sicherung wieder reinknipsen. Ich glaube der Vermieter würde sich bedanken. Außerdem müsste ich neu anfangen. Als ich nach einer Stunde beide Hände lackiert habe, sagt mein Freund, dass wir so langsam los müssen. Bitte was?! Ich wollte hier noch aufräumen, es sieht aus als wäre hier….
Nagut, dann räume ich später auf, oder morgen. Wir gehen los und schlendern in Richtung Kino. Vor und in dem Kino ist es extrem voll. Ich krieg Panik, ich hasse Menschenmengen und halte mich wie ein kleines Kind ganz fest an der Hand meines Freundes fest. Er sagt mir, dass es besser wäre, wenn ich hier auf unsere Freunde warte und er die Tickets holt. Ich bin sehr dankbar, dass ich mich da jetzt nicht durchdrängeln muss, fühle mich aber auch hilflos und alleingelassen. Es fühlt sich an, als würde jeder sehen, wie ich mich fühle und das lustig finden. Ah, da kommen unsere Freunde. Gott sei Dank. Jetzt muss ich mich noch irgendwie um die Begrüßungsumarmungen drücken und dann ist alles gut. Mein Freund kommt raus. Einer fehlt noch. Scheiße, dann sind wir eine ungerade Anzahl und 2,5 Pärchen. Irgendwie finde ich das unbefriedigend, ich weiß nicht wieso. Wir hinterlegen sein Ticket an der Kasse, holen uns Popcorn und drängen uns in Richtung Kinosaal. Wir sitzen ganz unten. Das hat den Nachteil, dass wir die ganze Zeit hochgucken müssen. Aber ehrlich gesagt finde ich es gut, dass vor mir so viel Platz ist und ich einfach aufstehen und gehen könnte. Also im Notfall. Noch bevor der Film beginnt höre ich wie alle um mich rum in ihre Popcorneimer langen und rumknabbern. Irgendwer ein paar Reihen hinter mir hat sich offenbar sein ganzes Getränk reingezogen und schlürft die Reste aus seinem Becher. Es riecht nach ekliger Käsesauce und das erinnert mich irgendwie an Erbrochenes. Außerdem haben die Sitze so einen komischen Rauen Stoff und ich habe nur eine Strumpfhose an, das harmoniert nicht. Die Stoffe bleiben aneinander hängen, wenn ich mich bewege. Mein Freund beansprucht die gesamte Armlehne. Grr. Jetzt schon keinen Bock mehr. Ich will wieder ins Bett.
Der Film beginnt und ich bemerke wie mein Sitz anfängt zu ruckeln. Irgendein Idiot hinter mir tritt gegen den Sitz. WARUM? Ich blicke nach rechts um abzuschätzen, wie viel Beinfreiheit die Reihe hinter mir hat und versuche anschließend zu berechnen ab welcher Körpergröße diese Beinfreiheit auf natürliche Weise nicht mehr reichen würde, sodass es bei einer Bewegung der Beine zwangsläufig zu einem Kontakt mit meinem Sitz käme. Meinen Berechnungen nach zu Folge müsste dieser Mensch ca. 3,5 Meter groß sein und zu 80 Prozent aus Beinen bestehen. Damit bin ich mir sicher, dass das Verhalten keiner natürlichen Ursache entspringt und ich somit bei einer Reaktion meinerseits niemanden diskriminieren würde. Okay. Also darf ich reagieren. Weil, nach Kant und seiner Theorie zum kategorischen Imperativ ist es so, dass man immer handeln sollte, wie man behandelt werden möchte. Und ich bezweifle, dass der Mensch hinter mir auch gerne gegen seinen Sitz getreten werden möchte. Es sei denn, er ist nicht so empfindlich wie ich. Naja, aber wünschen wird er es sich nicht. Ich beuge mich nach vorne und drehe mich um, ich muss ihn erstmal sehen. Vielleicht ist das auch ein Kind, das einfach zu viel Bewegungsdrang hat. Ok nein, es ist ein Jugendlicher, der offensichtlich großen Spaß daran hat, meinen Kopf wackeln zu sehen. Ich kann ihm jetzt nicht sagen, dass mich das stört.
Ich erzähle es meinem Freund, der es auch bemerkt hat. Er sagt ihm, er soll es lassen. Tut er nicht. Nach einer Weile sagt er ihm NOCHMAL er soll es lassen. Tut er nicht. Mein Freund steht auf und kommt nach zwei Minuten mit einem Mitarbeiter wieder, der den jungen Mann aus dem Saal verweist. Oh Gott, wie unangenehm. So eine Riesenszene wegen mir. Das wollte ich nicht. Jeder in diesem Raum wird nun denken, ich würde mich für etwas Besseres halten und dass ich jede Störquelle eliminieren müsste, weil es MIR als Königin der Welt zusteht, das zu entscheiden.
Mein Freund scheint sich wieder auf den Film zu konzentrieren. Ich hingegen verzweifle gerade, weil ich nicht weiß, ob ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Irgendwann fange ich mich und kann dem Film folgen. Zumindest ab und zu. Ich habe keine Ahnung, worum es ging. Aber es scheint sehr traurig gewesen zu sein, alle weinen. Als wir aus dem Kino kommen folgt wieder ein Smalltalk. Wuhu. Warum reden alle nach einem Film über den Film? Ich meine, wir haben ja alle das Gleiche gesehen. Also außer mir, ich habe nichts mitbekommen. Ich nicke einfach und lächle ein bisschen. Meine soziale Batterie ist komplett leer. Ich fühle mich ausgesaugt.
Auf dem Heimweg kann mein Freund nicht aufhören über den Film zu reden, bis ich ihn irgendwann unterbreche. Er will zu Hause noch was schauen. Wir haben 22:30 Uhr und ich habe schon den letzten Film nicht mitbekommen, den wir gesehen haben. Und dafür haben wir Geld ausgegeben. Ich schlage ihm vor irgendwas Sinnloses zu schauen. Wir einigen uns auf Katzenvideos. Als wir eingekuschelt im Bett liegen fängt mein Puls langsam an sich zu normalisieren. Von zur Ruhe kommen kann aber noch keine Rede sein. Mein Freund pennt nach 12 Minuten ein. Ich mache mir eine Doku an, die ich nicht verstehen kann, weil er einen Wald absägt. Ich nehme mir die Decke und ziehe ins Wohnzimmer um. Während ich an die Decke starre lasse ich den Tag Revue passieren. Es kommt mir vor, als hätte dieser Tag 4 Tage lang gedauert und ich bin noch lange nicht an dem Punkt, an dem der Tag vorbei ist. Bis ich einschlafe, werden noch mindestens 3 Stunden vergehen.

Eine Erklärung:

Zunächst saßen mein Freund (der Wolf) und ich (der Bär) zusammen und ich habe mit notiert, wie er seinen Tag empfindet. Hätte ich nicht bei jeder Situation zusätzlich gefragt „Und, was denkst du dabei?“, wäre der Text vermutlich noch kürzer ausgefallen.
Ich stelle mir nach und nach die Vorstellung SO wenig zu denken sehr friedlich vor aber auch ein wenig langweilig. Nach einigen Stunden, die ich mit dem Beschreiben meines Tages gebraucht habe rufe ich meinen Freund zu mir und lese ihm den Text vor. Zwischen Lachen, Hände über dem Kopf zusammenschlagen und Mitleid scheint jede Reaktion bei ihm vertreten zu sein.
Am Ende sagt er nur „was für ein Stress!“. Das ist es in der Tat. Aber ich bin jeden Tag meines Lebens damit konfrontiert und kann mir inzwischen nicht mehr vorstellen, wie es ohne mein ständiges Denken ist. Man gewöhnt sich mehr oder weniger dran. Mir ist durch diesen Text erst bewusst geworden, wie wichtig Entspannung für mich ist und irgendwie bekomme ich Mitgefühl mit mir selbst.
Das Schreiben über diesen Tag hat mir geholfen, einen Blick von außen zu bekommen und zwei Seiten eines gleichen Ablaufs miteinander zu vergleichen. Ich werde mich in Zukunft häufiger ermuntern, dass es okay ist, Pausen zu machen und mich geistig zu entlasten.
Außerdem sollte ich geduldiger mit meinem Freund zu sein. All das, was in mir vorgeht, ist für ihn absolut entfernt und kaum vorstellbar. Da ist Empathie oft nicht die leichteste Übung