Diejenigen, die uns kennen oder uns gerade kennenlernen, wissen, wie sehr wir dafür brennen, einer Stigmatisierung entgegenzuwirken. Einer Stigmatisierung, welche oftmals mit einer medizinischen Diagnose einhergeht. Wir wünschen uns die Akzeptanz aller Menschen … Diejenigen, die uns kennen oder uns gerade kennenlernen, wissen, wie sehr wir dafür brennen, einer Stigmatisierung entgegenzuwirken. Einer Stigmatisierung, welche oftmals mit einer medizinischen Diagnose einhergeht. Wir wünschen uns die Akzeptanz aller Menschen, unabhängig von definierten Zuschreibungen oder erklärten Defiziten.
Aber Diagnosen sind nun mal gesellschaftliche Realität. Deshalb möchten wir über das sogenannte Autismusspektrum sprechen und die Frage betrachten: Ist eine Diagnose von Vorteil oder von Nachteil?

Spektrum ist wohl so zu verstehen, dass es ganz viele unterschiedliche Ausprägungen und symptomatische Verhaltensweisen gibt. Diese scheinen also so variabel zu sein, dass sie nicht mit einzelnen, differenzierten „Farbtönen“ beschrieben werden können. Daher gibt es auch den (absolut richtigen!!!) Satz: kennst du einen Autisten, kennst du einen Autisten!

Für uns gilt weiterhin der Grundsatz, dass bekanntermaßen jeder Mensch einzigartig ist! Warum sollte es also ausgerechnet bei autistischen Menschen anders sein? Jetzt bliebe die Frage, wie stellt man dennoch diagnostisch fest, ob jemand in dieses so unglaublich vielfältige Autismusspektrum fällt oder nicht? Und warum bekommt der gleiche Mensch bei der einen Diagnosestelle das Ergebnis: Autismus ausgeschlossen! und bei der anderen Stelle: gesichert Autismusspektrumsstörung (ASS)!? Diese Fragen sind so diffizil zu beantworten, dass wir an dieser Stelle auf Einzelheiten verzichten. Eins ist dennoch für uns klar: Die abweichenden Ergebnisse haben mehr mit den Testern als den Getesteten zu tun! Wenn die Diagnose ASS allerdings gesichert steht, ist die entscheidende Frage, was diese Diagnose mit Menschen macht. Für uns ab diesem Zeitpunkt die wichtigste aller Fragen! Was sind Besonderheiten, die ihr im Autismusspektrum erlebt?

Autismusdiagnose! Und jetzt?

Wir hören immer wieder von Betroffenen, dass es geradezu eine Erlösung darstellen kann, die Diagnose zu erhalten. Es ist bestenfalls die Eintrittskarte, Unterstützungsangebote zu bekommen. Dies kann ein Schwerbehindertenausweis, Pflegegeld, ein Nachteilsausgleich in der Schule, Hilfsmittel wie Noise- cancelling- Kopfhörer, oder personelle Unterstützung sein, z.B. Integrationshilfe, Alltagsbegleitung, Autismustherapie.

Erleichterung stellt sich ein, wenn erstmalig das auffällige Verhalten des Menschen entsprechend seiner Diagnose betrachtet wird. Und eben nicht mehr gemessen wird an einer bestimmten gesellschaftlichen Norm. Aber auch dann ist nicht gesichert, dass er überall Akzeptanz findet und angemessen mit ihm umgegangen wird. Zumindest besteht die Hoffnung darauf, schließlich existiert jetzt ein medizinischer Beleg für abweichendes Verhalten und kein ursächlich pädagogisches Problem.

Auf der anderen Seite gibt es aber auch die berechtigte Sorge, welche psychischen Folgen die Diagnose für die Betroffenen haben kann. Zweifel tauchen auf. Werde ich dann nicht mehr ernst genommen oder ausgegrenzt? Noch mehr als vielleicht bislang sowieso schon? Weil keiner weiß, wie man mit „so jemandem“ umgeht. Weil man schon mal davon gehört und damit nicht unbedingt etwas zu tun haben will. Weil derjenige plötzlich eine „Extrawurst“ erhält. Weil er „nur“ nach einer „Entschuldigung“ für sein unpassendes Verhalten gesucht hat. Weil von vorneherein davon ausgegangen werden könnte, dass es schwierig wird mit einem autistischen Menschen. Weil er eben bestimmte Dinge (vermeintlich?) nicht kann. Eltern fragen sich dann oft: Kann mein Kind dann überhaupt jemals allein und selbständig leben? Wird mein Kind jemals einen Job bekommen? Werden Versicherungen, Banken, Vermieter, Arbeitgeber mein Kind per se ablehnen wegen seiner Diagnose?
Und beide Haltungen haben ihre Berechtigung: Erleichterung und Befürchtung! Beide spiegeln das gesellschaftliche Feedback. Was hat eine Diagnose mit euch/ euren Kindern „gemacht“? Was ist euer Feedback?

Autismusdiagnose! Neues Verständnis?

Die Diagnose liegt schwarz auf weiß vor. Jetzt kann man zumindest mal grundsätzlich sagen: Ein Mensch ist, wie er ist! Die Diagnose ändert schließlich nichts daran. Stimmt! Aber das gesellschaftliche Feedback kann sich stark verändern. Positiv wie negativ!

Aber es kann sich auch innerlich etwas verändern. Nämlich das Verständnis für sich selbst! Die eigenen Emotionen, das Verhalten, die Herausforderungen, die Fähigkeiten können neu geordnet werden. Das kann auch Akzeptanz für sich selbst bedeuten. Versöhnung mit all den Eigenheiten, die ansonsten kritisiert, häufig sogar verabscheut werden. Und es kann bedeuten, dass sich daraus ein neues Lebensgefühl entwickelt. Man versteht besser, was einem gut tut und was nicht, und kann nachvollziehen, warum dies so ist. Konstruktiv, und nicht, weil man „zu doof, zu unfähig, zu kaputt“ dafür ist. Eine Diagnose, die besagt, dass sich jemand im Autismusspektrum befindet, manche sprechen auch von „auf dem Autismusspektrum“, bedeutet grundsätzlich: das Gehirn ist so reizoffen, dass der Mensch häufig reizüberflutet ist, mit diversen Auswirkungen. Was hat die Diagnose an eurem Verständnis geändert? Welche Auswirkungen bemerkt ihr?

Autismusdiagnose! Leicht oder schwer betroffen?

Auswirkungen von „Autismus“ werden oftmals mit den Zuschreibungen „stark oder leicht betroffen“ in der Symptomatik charakterisiert. Bei „stark betroffen“ ist oftmals gemeint, dass es viele Einschränkungen für den Menschen selbst und seine Umwelt gibt. Es kann zum Beispiel eine einhergehende Intelligenzminderung bis hin zur geistigen Behinderung auftreten. Auch körperliche Einschränkungen und Behinderungen lassen sich immer wieder feststellen. Es kann vorkommen, dass es keine oder eine stark eingeschränkte Sprachfähigkeit gibt. Ein selbständiges Leben ist in diesen Fällen nahezu nicht möglich. Menschen, die sich in diesem Teil des Autismusspektrums befinden, bekommen ihre Diagnose meist schon sehr früh gestellt. Es ist allen klar, dass dieses Kind besonders ist, besondere Bedürfnisse hat und Unterstützung benötigt. Ohne Frage, diese Menschen sind „schwer betroffen“, weil die Integration ins familiäre und gesellschaftliche Leben mit immensen Hürden und Anstrengungen verbunden ist!

Bewegt man sich im Spektrum von einem Pol zum anderen weiter, nehmen die Besonderheiten und Auffälligkeiten immer weiter ab. Jetzt fällt die Bewertung immer schwerer. Wer bewertet nun, was „weniger betroffen“ heißt? Bedeutet es, dass es für die Mitmenschen weniger auffällig ist, oder dass die Person selbst weniger beeinträchtigt ist und es somit im Leben leichter hat? Innen- oder Außensicht, jede Beurteilung, jede Empfindung wird individuell ausfallen. Meistens sind sie nicht ansatzweise kongruent. Entscheidend ist die Perspektive!

Was Eltern als starke Einschränkung sehen, kann das Kind als unproblematisch empfinden und umgekehrt. Ordnungssinn, Unruhe, Bewegungsdrang, Geräusche, Gerüche, Schlafbedürfnis, Nähe-Distanz, Hygiene oder Stress bieten durch die unterschiedliche Wahrnehmung eine Menge Diskussionsstoff. Was bedeutet für euch „leicht“ oder „schwer“ betroffen?

Autismusdiagnose! Oder was sonst (noch)?

Allein in Deutschland leben unserer Ansicht nach Millionen hochfunktionale autistische Menschen. Darunter sind auch „Fehldiagnostizierte“, oder nur „Teildiagnostizierte“, z.B. mit den Diagnosen „Bindungsstörung“ oder „Borderline“ „AD(H)S“. Meistens jedoch „leicht betroffene Autisten“, gerne bezeichnet als Asperger-Autisten oder Aspies, wie sie sich selbst betiteln. Und solche, die noch keine Diagnose bekommen haben, weil sie einfach als ängstlich, schüchtern, introvertiert, entwicklungsverzögert, eigenbrötlerisch, nerdig, spleenig, ungelenk, sozial auffällig, renitent, sperrig, aber ansonsten gerade noch gesellschaftlich akzeptiert sind und somit unter dem medizinischen Radar bleiben. Sehr häufig auch Erwachsene, die diagnostisch kaum erfasst werden. Sie sind so hochfunktional, dass sie ohne Diagnose durch ihr Leben gekommen sind. Oder zu ihrer Jugend und Kinderzeit gab es die Diagnosekriterien überhaupt nicht. Sie landen dann als Erwachsene häufig im Burnout, einer Depression, in der Sucht … Die Dunkelziffer ist für uns immens hoch. Und es ist unser Hauptklientel, wenn wir als Familientherapeuten einen Auftrag übernehmen. Welche Diagnosen/ Fehldiagnosen habt ihr schon erfahren?

Autismusdiagnose! Echt oder maskiert?

Was ist mit all jenen Menschen, Kindern oder Erwachsenen, die noch so gut im Leben zurechtkommen, dass man von außen betrachtet „wenig“ oder nur „gelegentlich“ etwas bemerkt? Nämlich erst dann, wenn sie nicht mehr „maskieren“ können oder wollen. Die sich täglich überfordern, nur um so „normal“ wie möglich zu wirken. Die nur „heimlich“ zu Hause ihre Maske ablegen. Heimlich = nur, wenn es von außen keiner sieht, trauen sie sich zu leiden, mal auszurasten, oder so zu sein, wie sie sind. Nur im sicheren Rahmen (Familie), lassen sie alle Emotionen raus. Menschen, die die tägliche Reizüberflutung häufig gar nicht bewusst wahrnehmen. Weil sie schlicht nicht wissen, dass es nicht allen Menschen so schwerfällt, zum Beispiel einen Schulvormittag und seine Reize auszuhalten. Weil anderen mehr Filter gegen diese Reize zur Verfügung stehen. Erwachsene und Kinder, die an kleineren und größeren Herausforderungen stolpern, hängenbleiben, hinfallen, liegenbleiben. Eltern, die sich wünschen, dass die Kinder es sich nicht immer so „schwer machen“. Nicht wissend, dass sie es „schwer haben“. Menschen, die sich immer wieder fragen, warum sie scheinbar so anders sind als alle anderen. Die innerlich und/oder äußerlich zusammenbrechen oder ausrasten. Deren tägliche Routine mit einem Overload einhergeht, nicht selten mit anschließendem Meltdown oder Shutdown. Kindern, die schon in der Grundschule schulmüde oder schulängstlich werden. Kinder die als „nicht beschulbar“ gelten. Kinder und Jugendliche, die schon früh von suizidalen Gedanken geplagt werden. Die ein Ende ihrer Leiden herbeisehnen und NIEMAND versteht warum. Nicht mal sie selbst. Erwachsene, die seit Jahren oder gar Jahrzenten therapeutisch begleitet werden und dennoch nichts „so richtig“ hilft. Hilft gegen Schwierigkeiten, die Anstrengungen, dieses niemals enden wollende Gedankenkarussell, dieses ewige Hamsterrad aus Frust und Stress. Familien und wir Therapeuten wissen darum. Und der Rest der Menschheit?
Ist es wirklich fair, hier von „leicht betroffen“ zu sprechen?

Autismusdiagnose! Sie sagt wenig über dich!

Dies geht an alle Eltern, die spüren, dass ihre Kinder herausgefordert sind und leiden, denen aber kein Glaube oder Gehör geschenkt wird. Dies geht auch an jene Eltern, die verzweifeln, weil ihre Kinder nicht so reagieren, wie es „normal“ zu sein scheint. Und dies vermeintlich ohne triftigen Grund. An alle Kinder, die so viel investieren, um gesehen, anerkannt, gemocht, geliebt oder zumindest toleriert zu werden und dennoch oft das Gegenteil erfahren. An alle Erwachsenen, die sich im Leben gescheitert fühlen. Die ihr ganzes Leben einem „NORMAL“ hinterherjagen, dass es „nur“ oberflächlich und gesellschaftlich definiert gibt.

An alle Menschen, die herausgefordert sind, die stolpern, verzweifeln, zerbrechen.
An alle mit und ohne Diagnose.
An alle Autisten, anerkannt oder nicht.
Werdet euch darüber klar, wer ihr seid. Wie nehmt ihr wahr? Wie reizoffen seid ihr? Was schützt euch? Was tut euch gut? Folgt euren Antworten und nicht den gesellschaftlichen Normen!
Aus einem einzigen Grund:
Ihr seid alle einzigartig!
Einzigartigkeit kann nicht kritisiert werden!