Alexa weckt mich. Wir haben 10 Uhr. Ich habe heute Nacht etappenweise 4 stunden schlaf bekommen. Meine Ohropax sind ständig rausgefallen und irgendein scheiß Elektronikgerät in meinem Zimmer fiepst. Ich konnte nicht herausfinden welches.
„Alexa, setze den true crimes podcast fort – Lautstärke 5“. Das ist zu leise. „Alexa, Lautstärke 10“. Mir fliegen die Ohren weg, ich bin wach. Alexa, stopp. Ich mache meinen Rechner an, öffne spotify, setze den podcast fort. Lautstärke 50, perfekt durch 5 teilbar. Ich brauche Dauerbeschallung. Ich will nicht allein sein. Also höre ich simultan um die 40 podcasts. Nicht allein sein wollen. Ja. Reale Menschen um mich haben, nein danke. Allein der Gedanke stresst mich. Lautstärke 60. Oh, ich muss meine Tabletten nehmen. Wann habe ich diese Pflanze zuletzt gegossen? Ich kann Wasser für die Pflanze holen und ein Glas Wasser für die Tabletten. Ich lausche an der Tür, verdammt, ich höre Teller. Das ist nicht die gute Mitbewohnerin, es ist die Neue. Ok, ich geh gleich, sobald sie wieder in ihrem Zimmer ist. Ich muss eh noch beim Arzt anrufen, aufräumen, mich anziehen. Tasche packen. Bett machen. Haustiere füttern, was essen und dann den Bus nehmen. Durch die Stadt fahren. Zur Uni gehen, eine ganze Vorlesung plus Rückweg ertragen.
Paralyse.
Ich schaff das nicht.
Ich habe die letzten 5 Minuten des podcast verpasst. Podcast aus. Ich setze mich aufs Bett. Leere. Ich starre an die Wand. 10 Minuten später höre ich eine Zimmertür. Perfekt, ich kann runter. Ok, du schaffst das. Eins nach dem anderen. Ich gehe runter und putze mir die Zähne. Scheisse, der Bus kommt in 15 Minuten. Beeilung, anziehen Tasche packen und los. Habe ich alles dabei? Fenster zu? Fenster wirklich zu? Ich habe noch nicht beim Arzt angerufen. Naja, ok morgen dann. Oder später. Ich laufe zur Haltestelle. Ich habe meine Tabletten vergessen. Der Bus kommt. Alle Sitzplätze sind besetzt. Ganz toll. Ich finde mich neben zwei Typen wieder. Einer berührt mit seinem Arm meinen, immer wieder. Hallo? Ich mach mich nicht umsonst immer kleiner und versuche hier in die Lücke zu passen. Ich raste gleich aus. Gott sei Dank, er steigt aus. Ich lächle ihm freundlich zurück. Das Baby schreit und ich habe meine Kopfhörer vergessen. Ich explodiere gleich. Ein Mann mit Rollator will hier auch noch rein. Ich steige aus, trage ihm den Rollator rein und steige wieder ein. Endlich angekommen. Ich quetsche mich aus dem Bus.
Erstmal eine rauchen. Ich brauch noch neue Zigaretten. Ich sollte mit dem Rauchen aufhören. Sagen zumindest alle. Ich kann aber nicht. Ich muss aber. Vielleicht rauche ich nur noch, wenn ich allein bin. Aber ich kann nicht. Ich stecke mir noch eine Zigarette an und laufe zur Uni. Ich fühle mich schlecht bei jedem dem ich entgegen komme. Verurteilt der mich fürs Rauchen? Ich versuche den Kopf frei zu kriegen. Ein paar Minuten später komme ich an. Ich bin zu spät. Alle gucken, als ich reinkomme. Ich fühle mich, als hätte ich mich bepinkelt und alle lachen mich aus. Ich gehe wortlos zu meinem Platz und versuche nicht zu schwer zu atmen nach den ganzen Treppen. Es soll keiner denken ich wäre unsportlich.
Ok, jeder in diesem Raum hat mich durchschaut. Ich habe heute nichts hinbekommen. Die nächsten 10 Minuten versinke ich in Selbsthass und bekomme wenig mit. Meine beste Freundin tippt mich an. „Du blutest.“ Scheisse, ich habe mir die Lippe aufgekaut und das Blut läuft aus meinem Mund. „Oh Mann, ja ich hab ne neue Zahnbürste, hab ne harte statt ner weichen gekauft. Zahnfleischbluten vorprogrammiert!“ Ok, gerettet.
Ich versuche die Folien der letzten 10 Minuten durchzulesen und simultan den aktuellen zu folgen. Klappt ganz gut, ich bin wieder drin. Nach der Vorlesung gehe ich zu einer wenig befahrenen Straße und bestelle mir ein Taxi nach Hause. Ich kann nicht mehr, ich kann nicht nochmal Bus fahren.
Zu Hause angekommen sitze ich auf meinem Bett und starre eine Stunde gegen die Wand. Ich will hier mehr Ordnung haben. Aber es ist so viel Kram, den ich wegräumen muss.
Paralyse.
Du schaffst das.
Los jetzt!
Nachdem ich mich aus dem 14. Loch heute gekämpft habe, verbringe ich ca. 3 Stunden damit „aufzuräumen“. Eigentlich schiebe ich alles von a nach b, weil ich keinen einzigen Prozess zu Ende bringen kann. Ständig sehe ich was Neues, was gemacht werden muss, beginne damit und lasse das dann wieder für etwas Neues liegen. Die Wäsche kann ich nicht mehr machen, die Maschine ist im Keller und es ist zu spät. Außerdem würde ich sie da eh vergessen. Es sieht schlimmer aus als vorher. Ich kriege wirklich nichts hin. Nicht eine Sache.
Ich fange an zu weinen. Ich nehme meine Schlaftabletten und versuche einzuschlafen. Unmöglich. Der Tag war grausam, obwohl nichts passiert ist. Ich habe nur das getan, was jeder Mensch auch tut und bin dabei zu Grunde gegangen. Ich mache mir Vorwürfe und versinke wieder in Selbsthass. Ich stehe nochmal auf und räume die nächsten 4 Stunde auf, bis mein Zimmer glänzt. Zwischendurch musste ich aufpassen, dass ich nicht umfalle. Meine Schlaftabletten wirken ja schließlich trotzdem.
Ich gehe schlafen und träume davon, mich einzupinkeln und jeder lacht mich aus.

2 Jahre später

Guten Morgen, Schatz. Ich muss los zur Arbeit.“ Mein Freund weckt mich und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. Dann verschwindet er. Ich nehme meine Tabletten, stehe auf und kuschle ein Stündchen mit meiner Katze. Danach mache ich meinen Podcast an. Ich habe mir eine Bluetoothbox gekauft, bei der die Lautstärke ohne Zahlen regulierbar ist.
Während mir jemand von Serienmördern erzählt, mache ich mir ein Räucherstäbchen an und esse wie jeden Morgen ein Stück Schokolade. Ich bin in ein kleineres Zimmer innerhalb der Wohnung umgezogen und Räume jetzt einmal täglich vor dem Schlafengehen auf. Das reicht für weniger Überforderung aus. Die Waschmaschine steht jetzt oben in der Wohnung, sodass ich zu jeder Uhrzeit waschen kann und mich schneller daran erinnre die Wäsche rauszuholen. Die „neue“ Mitbewohnerin ist ausgezogen. Hier kann ich jetzt ich sein. Ich darf meine Tür zu machen, allein sein und keiner verurteilt mich, wenn ich ihn auf dem Weg zum Bad nicht Grüße.
Meine Mitbewohnerin und beste Freundin und mein Freund. Sie wissen beide, dass ich sie trotzdem liebe. Beide sind Wölfe. Aber sie haben mit mir gelernt, dass ich nicht so bin wie sie und das finden alle okay. Mein Studium habe ich abgebrochen und dafür ein Fernstudium angefangen. Dort kann ich auf Pause drücken, wenn ich nichts mehr mitkriege oder es mir zu viel ist. Ich kann selbst entscheiden, wann ich was mache, und ich muss nicht mit anderen Menschen interagieren. Statt Bus fahre ich häufiger mit dem eScooter, das kostet genau so viel und keiner berührt mich.
Niemand sagt, dass das alles von heute auf morgen passiert ist. Es war für mich viel Arbeit und auch für mein Umfeld. Manchmal sind es viele Kleinigkeiten, die in der Gesellschaft normal gehandhabt werden, die ich für mich ändern muss, um nicht durchzudrehen. Manchmal waren es aber auch große Entscheidungen, die mir geholfen haben, einen gesünderen Rahmen für mich zu basteln.
Rituale zu schaffen, Routinen und eine offene Kommunikation über das was ich will und was ich nicht will war das Schwierigste, was ich je in meinem Leben machen musste.
Aushalten ist zwar schmerzhafter, aber einfacher.
Zu verstehen, dass mit einem nichts falsch ist und sich einzugestehen, dass man es wert ist, die eigenen Bedürfnisse überhaupt zu hören, war mein erster Schritt zur Wiedergutmachung. Mir geht es besser denn je und ich wünsche mir für alle Pandas einen ähnlichen Rahmen zu finden oder sich diesen zu schaffen.